Simon Evans
21.09.2016 | 7:01amMit der Energiewende hat Deutschland einen Begriff geprägt, der weltweit als Beispiel für die typisch deutsche Liebe für zusammengesetzte Wörter gilt, die zwei bislang unverbundene Begriffe kombinieren und damit etwas Neues schaffen.
Energiewende ist ein Begriff, der eine Vielzahl von Bedeutungen in ein Wort packt. Die einen macht er zu unerschütterlichen Befürwortern, die anderen zu erbitterten Kritikern. Dabei besteht oft wenig Einigkeit darüber, wofür das Wort eigentlich steht und wie es überhaupt entstanden ist.
Ergänzend zu unserer interaktiven Karte zur Stromerzeugung in Deutschland hat Carbon Brief die Archive durchforstet, um die Geschichte der Energiewende in einer Zeitleiste darzustellen.
Geschichte der Energiewende
Bei der Energiewende denken die meisten an Kanzlerin Angela Merkel. Im “Energiekonzept” ihrer Regierung aus dem Jahr 2010 kommt das Wort allerdings nicht ein einziges Mal vor.
Aufgetaucht ist der Begriff allerdings bereits in den späten 1970er Jahren, als die Anti-Atom-Bewegung eine Energiewende forderte.
Merkel machte sich den Begriff erst nach der Atomkatastrophe von Fukushima 2011 zu eigen, als sie die zuvor beschlossene Laufzeitverlängerung zurücknahm und einen Atomausstieg bis 2022 durchsetzte, so wie es die frühere rot-grüne Regierung geplant hatte – ein klassisches politisches Manöver, um dem Gegner die Themen aus der Hand zu nehmen. Inzwischen ist die Energiewende Teil der offiziellen Klima- und Energiepolitik Deutschlands.
Weitere Details zur Geschichte der Energiewende finden Sie oben in unserer interaktiven Zeitleiste, die anhand von 28 markanten Ereignissen die Jahre zwischen 1971 und 2016 abdeckt.
Bekannt wurde der Begriff durch ein Buch aus dem Jahr 1980 mit dem programmatischen Titel “Energiewende: Wachstum und Wohlstand ohne Erdöl und Uran“.
Einer der Autoren des Buchs, Florentin Krause, erläuterte im Rückblick 2013, worum es ihm und seinen Mitautoren ging:
Wie Krause betont, hatte das Buch aber weit mehr im Blick als das, was heute unter Energiewende verstanden wird:
Zu Beginn war die Energiewende ein Projekt, das auf Energieeffizienz, Versorgungssicherheit, Erneuerbare und den Atomausstieg zielte. Dass es dabei auch um den Klimawandel geht, drang erst später ins Bewusstsein der Öffentlichkeit. Dennoch wird der Erfolg oder Misserfolg der Energiewende zumeist am Ausstoß von CO2-Emissionen bemessen.
Nachdem die Energiewende schon auf eine mehr als 40-jährige Geschichte zurückblicken kann, hat Deutschland immer noch 34 Jahre Zeit, um sein Klimaziel für 2050 zu erreichen. Es sieht eine Reduktion der Emissionen um 80 bis 95 Prozent gegenüber 1990 vor – genauso wie die Klimaziele der EU.
Umweltministerin Barbara Hendricks sagte auf einer Konferenz in Berlin im März 2016:
Damit das gelingt, muss Deutschland nicht nur seinen Stromsektor fast komplett dekarbonisieren, sondern auch Wärme, Verkehr, Industrie und Landwirtschaft. Derzeit sieht es so aus, als würde das Land die meisten seiner Ziele verfehlen. Wie der aktuelle Stand der Dinge ist, zeigen Karte und Grafiken.
Klimaschutzplan 2050
Im Juni 2015 startete die Bundesregierung einen sogenannten Dialogprozess mit Bürgern und Verbänden, um die nationalen Klimaziele wieder in die Spur zu bringen. Die eingereichten Vorschläge flossen in einen Entwurf für den Klimaschutzplan 2050 ein, der im Sommer 2016 eigentlich vom Kabinett verabschiedet werden sollte (siehe Zeitleiste).
Doch am 21. Juni 2016 erklärte das Umweltministerium, man brauche mehr Zeit, um an dem Plan zu arbeiten, wie Deutschland bis zur Mitte des Jahrhunderts klimaneutral werden kann. Das Kabinett wird den Klimaplan nun nicht vor Oktober verabschieden, berichtete Der Spiegel. Ministerin Hendricks nannte Anfang November als Termin.
Besonders umstritten ist ein Kohleausstieg. Ein Ausstiegsdatum für 2045 oder 2050 wurde wieder aus dem Entwurf gestrichen. Dass noch vor den Bundestagswahlen 2017 eine Entscheidung fällt, ist unwahrscheinlich. Der Kohleausstieg sei ein „politisch sensibles“ Thema, hieß es in einer geleakten Papier aus dem Kanzleramt.
Der Streit über den Kohleausstieg steht in scharfem Gegensatz zu dem überparteilichen Konsens in Sachen Atomkraft. Obwohl der Atomausstieg ein Erreichen der nationalen Klimaziele erschwert, hält Deutschland am geplanten Atomausstieg bis 2022 fest.
Als Carbon Brief im März 2016 Deutschland besuchte, begegnete uns viel Kopfschütteln, aber auch Schadenfreude angesichts der großen britischen Begeisterung für neue Atomkraftwerke, die nicht einmal dann nachlässt, wenn es – wie bei den geplanten Reaktoren in Hinkley Point – zu immer neuen Verzögerungen und Pannen kommt.
Im März 2016 sagte Wirtschaftsminister und SPD-Chef Sigmar Gabriel:
Außerhalb Deutschlands wird der beschlossene Atomausstieg durchaus kritisch gesehen. Er gilt als der umstrittenste Teil der Energiewende. Wie polarisierend das Thema ist, zeigte sich kürzlich an einer Debatte in den Vereinigten Staaten über die vorgezogene Schließung des kalifornischen Atomkraftwerks Diabolo Canyon.
Amory Lovins, langjähriger Atomkraftkritiker und einer der Vordenker der Energiewende (siehe Zeitleiste), sagte, die Stilllegung helfe, Geld und CO2 zu sparen. Andere meinten, die Entscheidung laufe den Klima- und Umweltschutzzielen der USA zuwider.
Anders als Kalifornien und Deutschland will der Staat New York seine bestehenden Atomkraftwerke künftig mit Fördergeldern unterstützen. Der Vorschlag ist Teil eines Klimaschutzplans, der auch den Ausstieg aus der Kohleverstromung vorsieht.
Vorrang für Effizienz
Am 12. August 2016 veröffentlichte das Wirtschaftsministerium sein Grünbuch Energieeffizienz. “Efficiency First“ soll damit zum Grundprinzip der Energiewende werden – wie es die Vordenker des Konzepts auch ursprünglich vorgesehen hatten.
Das Papier räumt ein, dass Deutschland seine Klimaziele ohne zusätzliche Anstrengungen nicht erreichen kann. Von 2016 bis 2020 werden 17 Milliarden Euro für die Förderung von Energieeffizienzmaßnahmen bereitgestellt. Bereits im Mai hatte das Ministerium eine Öffentlichkeitskampagne zur Steigerung der Energieeffizienz gestartet.
Im Entwurf des Klimaschutzplans 2050 waren Reduktionsziele für die einzelnen Sektoren vorgesehen. Auf Druck der Industrie wurden sie abgeschwächt.
Vertreter des Umweltministeriums zeigen sich “besorgt” über den Verkehrssektor, dessen Emissionen weiter steigen. Auch Außenminister Frank-Walter Steinmeier sagte beim Berlin Energy Transition Dialogue im März 2016: „Es gilt unsere Energieversorgung, unsere Städte und unsere Mobilität radikal umzubauen.“
Bei derselben Veranstaltung sagte der Staatssekretär im Wirtschaftsministerium, Rainer Baake, der Verkehrssektor dürfe bis 2050 keine Emissionen mehr verursachen. Das Verkehrsministerium hingegen erklärte im August 2016 die Autobahnen zum „Rückgrat“ von Deutschlands Mobilität. Der neue Verkehrswegeplan, der bis zum Jahr 2030 reicht, schaufelt mehr Geld in den Straßenbau als ins Schienen- oder Wasserstraßennetz.
Die Autoindustrie ist in Deutschland sehr stark. Daimler, Volkswagen, Porsche und BMW haben bereits Elektroautos auf den Markt gebracht, oder werden das in Kürze tun. VW-Chef Matthias Müller spricht vom Ende des Diesels. Die Autobauer bemühen sich außerdem um neue Geschäftsmodelle und haben teilweise in Car-Sharing– Angebote investiert.
Dennoch steigen die Emissionen weiter. Von ihrem Ziel, bis 2020 eine Million Elektrofahrzeuge auf Deutschlands Straßen zu bringen, ist die Bundesregierung noch sehr weit entfernt. Die Kaufprämie für Elektroautos, die im Mai eingeführt wurde, wird bislang kaum nachgefragt.
Der CO2-Ausstoß im Verkehrssektor ist unverändert hoch. Immerhin hat Deutschland bereits einige zusammengesetzte Wörter ersonnen, um die geplanten Veränderungen in einen schönen Begriff zu fassen: Verkehrswende oder Transportwende oder auch Autowende und Mobilitätswende.
Zusammenfassung
Die entscheidende Frage ist, ob der Klimaschutzplan 2050 genug Überzeugungskraft entwickeln kann für einen umfassenden, klimafreundlichen Umbau der Wirtschaft des Landes. Wohl einer der größten Erfolge der Energiewende besteht in dem enormen Rückhalt, den das Projekt in der Bevölkerung genießt, wie Umfragen immer wieder zeigen.
Auch wenn die Meinungen auseinandergehen, was Energiewende in Einzelnen bedeutet, gibt es eine große Übereinstimmung, was Sinn und Zweck und Richtung der geplanten Transformation betrifft. In Großbritannien beispielsweise fehlt ein solcher gemeinsamer Horizont.
Deutschland steht mit seiner Energiewende nicht allein da. Dass Klimaschutz innovative neue Geschäftsmodelle schafft und nicht nur Schadensbegrenzung bedeutet, ist mittlerweile ein von vielen unterstütztes Argument.
Gabriel drückte es im März 2016 mit Blick auf die Verantwortung der Industrieländer so aus:
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Zeitleiste: Die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der deutschen Energiewende